Der blinde Analyst
Das ist peinlich.
Es gibt in den größten Banken und Investment-Unternehmen der Wallstreet 22 “Chief Market Strategists”. Sie arbeiten bei bekannten Unternehmen wie Goldman Sachs und Morgan Stanley. Sie haben Zugang zu den besten Informationen, den klügsten Wirtschaftswissenschaftlern und Teams mit brillanten Analysten. Sie sprechen mit den größten Investoren der Welt. Sie arbeiten hart. Sie verdienen sehr viel Geld.
Eine ihrer wichtigsten Aufgaben – und vielleicht sogar die anspruchsvollste – ist die Vorhersage, wie sich der Aktienmarkt im Laufe des Jahres entwickelt. Strategen tun dies jeden Januar, wenn Sie vorhersagen, wo der S&P 500 am 31. Dezember schließen wird.
Du wirst nicht überrascht sein, zu lesen, dass die Vorhersagen nicht immer perfekt sind. Aber du wirst schockiert sein, wenn du erfährst, wie schlecht sie tatsächlich waren.
Im Durchschnitt waren die Vorhersagen der Chief Market Strategists schlechter als die eines Typen, den ich „blinder Analyst“ nenne. Dieser ist ein hirnloser Idiot, der annimmt, dass der Markt um 9% steigt – sein langfristiger Durchschnitt – Jahr für Jahr, ganz egal, wie die Umstände sind.
Hier ist die durchschnittliche Vorhersage der Marktstrategen im Vergleich zur Performance des S&P 500 seit 2000:
Eine schnelle Berechnung zeigt, dass die Vorhersagen der Strategen im Durchschnitt um 14,7 Prozentpunkte pro Jahr daneben lagen.
Wie schlägt sich unser blinder Analyst? Unter der Annahme, dass der Markt seit 2000 um durchschnittlich 9% stieg, lag er im Durchschnitt um 14,1 Prozentpunkte falsch.
Die schlechtere Leistung der Strategen im Vergleich zu dem blinden Analysten liegt nicht an den Ereignissen von 2008, die von den Strategen als unvorhersehbar angesehen werden. Wenn man 2008 herausnimmt, dann liegt die Fehlerrate der Strategen bei 12% pro Jahr. Der blinde Analyst hingegen kommt mit 11,6% davon. Unser Idiot gewinnt also wieder.
Der blinde Analyst war kein guter Prognostiker, das solltest du beachten. Er war furchtbar. Er ignorierte Bärenmärkte und unterschätzte Bullenmärkte. In nur einem der letzten 14 Jahre war seine Vorhersage nahe an der Wirklichkeit dran. Aber er war immer noch besser als die gesamten Anstrengungen der 22 klügsten Wall Street-Analysten.
Und der blinde Analyst verlangte kein Gehalt in Millionenhöhe. Er arbeitet nicht bis spät in die Nacht. Er nahm an keinen Telefonkonferenzen, Meetings oder Geschäftsessen teil. Er fertigte keine PowerPoint-Präsentationen an, erschien nie auf CNBC. Er hat kein Strandhaus und erhielt keine Boni. Er arbeitet kostenlos und bietet seinen Dienst jedem an, der zuhören will.
Erstaunlicherweise sind solche Geschichten nicht selten. Die Wirtschaftswissenschaftler Ron Alquist and Lutz Kilian untersuchten Rohöltermingeschäfte, dies ist ein Markt, durch den die Ölpreise vorhergesagt werden. Diese Märkte waren bei der Vorhersage der Ölpreise weniger genau als eine naive Vorhersage, die davon ausgeht, dass sich nichts ändern wird. Diese naive Annahme geht also davon aus, dass sich der Ölpreis nicht von dem gegenwärtigen Niveau wegbewegt. Sie war zugegeben ziemlich schlecht darin, die Ölpreise vorherzusagen. Aber sie war besser als die Summe aller Bemühungen in dem Termingeschäftmarkt.
Dies wirft zwei Fragen auf: Warum hören Leute auf Strategen? Und warum sind sie so schlecht?
Die erste Frage ist einfach. Ich denke, dass es einen großen Wunsch gibt, die Finanzwelt als Wissenschaft zu sehen, die mit Physik oder Maschinenbau zu vergleichen ist.
Wir wollen uns vorstellen, dass sie sauber und präzise gemessen werden kann, sodass es einen Sinn ergibt. Wenn du denkst, dass sich der Finanzmarkt wie Physik verhält, dann gehst du auch davon aus, dass es kluge Leute gibt, die die Daten auswerten können, die Zahlen verstehen und uns genau sagen, wo der S&P 500 am 31. Dezember stehen wird, genauso wie uns ein Physiker sagen kann, wie weit der Mond entfernt ist am letzten Tag des Jahres.
Aber der Finanzmarkt ist nicht wie Physik. Um vielleicht eine Analogie des Investors Dean Williams zu bemühen: Er ist nicht wie die klassische Physik, mehr wie Quantenphysik, die uns sagt, dass – auf einem bestimmten Niveau – die Welt ziemlich unordentlich funktioniert, und man sie nicht präzise messen kann, denn die Messung selbst beeinflusst das Objekt, was gemessen werden soll (Heisenbergs Unschärferelation). Der Glaube, dass der Finanzmarkt etwas exakt Messbares ist, lässt uns den Strategen zuhören. Und ich glaube nicht, dass sich dies ändern wird.
Der Finanzmarkt ist viel näher dran an Wissenschaften wie Soziologie. Er ist kaum eine Wissenschaft und von irrationalen, uninformierten, emotionalen, nachtragenden, leichtgläubigen und hormonbeeinflussten Menschen getrieben.
Wenn du dir den Finanzmarkt ähnlich wie Physik vorstellst und er doch eigentlich näher an Soziologie ist, werden Vorhersagen zum Albtraum. Das Wichtigste, was man für gute Vorhersagen wissen muss, ist, in welcher Stimmung die Investoren in Zukunft sein werden. Sind die Leute optimistisch und gewillt, hohe Preise für Aktien zu zahlen? Oder haben sie Fracksausen und sind aufgrund einer Krise in Panik oder verärgert über Politiker und wollen nicht viel für die Aktien zahlen? Das musst du wissen. Das ist die wichtigste Variable, wenn man die Erträge der Aktien in der Zukunft voraussagen will. Und das kann niemand wissen! Es gibt keine Möglichkeit, vorherzusagen, in welcher Stimmung ich in zwölf Monaten bin, denn ganz egal, was du heute misst, das kann in einem Jahr ganz anders aussehen. Daher haben die Marktstrategen eine so schlechte Trefferquote.
Schlimmer als die des blinden Analysten.
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Dieser Artikel wurde von Morgan Housel auf Englisch verfasst und am 25.02.2015 auf Fool.com veröffentlicht. Er wurde übersetzt, damit unsere deutschen Leser an der Diskussion teilnehmen können.