Was Fintech-Unternehmen aus der Geschichte des Bankwesens lernen können
Fintech-Unternehmen haben eine rosige Zukunft vor sich, aber viele Vorreiter der Branche scheitern dabei, einige wichtige Dinge zu begreifen, die schon unzählig vielen Fintechs das Genick gebrochen haben — insbesondere denen, die Kredite ausgeben.
Eine ungesunde Besessenheit, „Ja“ zu sagen
Ein weit verbreiteter Glaube unter den Technologie-basierten Kreditgebern ist, dass es immer das Ziel sein sollte, „Ja“ zu sagen. Wenn jemand Geld braucht, geht es weniger darum, ob die Person oder das Unternehmen ein gutes Kreditrisiko darstellt, sondern eher um das Kundenerlebnis und die Dauer, bis der Kreditnehmer auf seine Mittel zugreifen kann.
Die Webseite LendingClub (WKN:A12DRP) wirbt mit Privatdarlehen von bis zu 40.000 US-Dollar. Die Beantragung eines Darlehens dauert „nur wenige Minuten“ und dem Unternehmen zufolge kann ein Kredit schon innerhalb einiger Tage ausgezahlt werden. Funding Circle, ein weiterer prominenter Fintech-Kreditgeber, behauptet, dass Kleinunternehmen Kredite in Höhe von 25.000 – 500.000 US-Dollar in nur 10 Tagen beantragen und erhalten können.
Dabei handelt es sich um sehr innovative Dienstleistungen, die auf eine wichtige Nische des Kreditmarktes abzielen. Sie geben Darlehen an Menschen aus, die in der Vergangenheit stets von Banken abgewiesen wurden. Fintechs ermöglichen diesen Menschen, zu vergleichsweise niedrigen Zinsen beispielsweise Kreditkartenschulden abzubezahlen oder ein Geschäft aufzubauen. Doch selbst gute Ideen kann man zu sehr ausreizen.
So können Fintech-Kreditgeber einiges aus der Geschichte des Bankwesens lernen. Und die wohl wichtigste Lektion, die auf dieses sehr aktuelle Thema zutrifft, ist es, „nein“ sagen zu können.
Wenn man vergisst, was passiert ist…
Der Kreditzyklus ist die stärkste Kraft in der Finanzwelt. In guten Zeiten herrscht rasches Kreditwachstum. Aber irgendwann kontrahiert der Kreditmarkt mit solch einer Unvorhersehbarkeit und Gnadenlosigkeit, dass jeder, der nicht auf so eine Situation vorbereitet ist, untergeht – so wie es bereits 17.000 Banken in den vergangenen knapp 250 Jahren ergangen ist.
Kreditgeber werden übermütig, wenn es mit der Wirtschaft aufwärts geht. Sie überzeugen sich selbst und alle um sie herum davon, dass dieses Mal alles anders kommt und sie endlich das Rätsel geknackt haben, wie man sein Unternehmen vor einem Bankrott bewahrt.
Warren Buffett bezeichnet dies als „institutionelle Notwendigkeit“, die er als „Neigung von Managern, gedankenlos das Verhalten ihrer Mitstreiter zu imitieren, wie dumm es auch sein mag“ definiert. Buffett schrieb diese Worte in den frühen 1990er Jahren, als der Kreditzyklus eine ganze Generation von Kreditgebern, die sich gegenseitig überzeugt hatten, dass Kreditrisiko nicht mehr relevant sei, zum Einsturz brachte. „Viele Banker folgten führenden Institutionen wie Lemminge – und nun ereilt sie ein Lemming-typisches Schicksal“, so Buffett.
Solche Entwicklungen haben wir in der Geschichte immer wieder erlebt. In den 1980er Jahren glaubten Vermögensverwalter, dass die sogenannte Portfolio Insurance das mit Aktien verbundene Risiko komplett auslöscht – Portfolio Insurances seien eng mit Anleihen verwandt und sind deshalb kaum als Kredit zu bezeichnen, hieß es. Es stellte sich erst heraus, wie naiv dieser Irrglaube war, als man erkannte, dass Portfolio Insurances den Marktzusammenbruch eher beschleunigt haben. Dies geschah am 19.Oktober 1986 – dem sogenannten Black Monday.
Das Gleiche spielte sich im Vorfeld der Finanzkrise 2008 ab. Kreditgeber hatten sich gegenseitig überzeugt, dass hypothekarisch gesicherte Wertpapiere und Kreditausfallversicherungen als absolut sicherer Schutz gegen Rezessionen des Immobilienmarkts dienen. Sie verliehen also Kredite an jeden – unabhängig von Einkommen, Vermögen und der Kredithistorie.
Aus diesem Grund verneigen sich die besten Banker, so wie beispielsweise Jamie Dimon von JPMorgan Chase (WKN:JPM39E), in Ehrfurcht vor dem Risiko eines Kreditzyklus. „Niemand hat das Recht, anzunehmen, dass sich der Konjunkturzyklus wenden könnte“, sagte Dimon am Vorabend der vergangenen Krise. „Man muss davon ausgehen, dass circa alle fünf Jahre etwas Schlechtes passieren wird.“
Dies ist auch der Grund, wieso Investoren und Unternehmer zurückzucken sollten, wenn Top-Manager von Fintech-Unternehmen behaupten, sie hätten das Kreditrisiko für ein und alle Mal beseitigt. Betrachten wir doch folgende Aussage von ZestFinance, einem Online-Kreditgeber, der „Google-ähnliche Mathematik“ zur Beurteilung von Kreditentscheidungen anwendet:
Diese neue Technologie ist in der Lage, eine riesige Menge an Daten zu verarbeiten, um auf akkurate Weise gute Kreditnehmer ausfindig zu machen – und sie ermöglicht so höhere Rückzahlungsraten für Gläubiger und kostengünstigere Kredite für Schuldner.
Bei ZestFinance gibt es bei der Vergabe von Krediten keinerlei menschliche Interaktion. Stattdessen vertrauen wir bei unseren Entscheidungen auf mehrere mathematische Modelle. Wir treffen diese Entscheidungen akkurat – in weniger als 10 Sekunden.
Der fehlende menschliche Faktor ist ein Fehler. Zwar besteht immer die Möglichkeit, dass ZestFinance das Kreditrisiko zum ersten Mal seit Menschen gedenken völlig ausradiert hat, jedoch füllen auf der anderen Seite Unternehmen, die genau so gedacht haben, heute ganze Friedhöfe.
Dogma und Realität
Die Idee, dass Kredite jedem frei verfügbar sein sollte, ist lobenswert, muss in der Realität aber etwas gedämpft werden. Banken sind wie Einzelhandelsunternehmen, die Geld verkaufen – ein Gut, das jeder zur richtigen Zeit zum richten Preis gerne kaufen will. Geht es allerdings um Darlehen, ist es oftmals weise und verantwortlich „nein“ anstatt „ja“ zu sagen.
„Eines der schwierigsten Dinge beim Führen eines Unternehmens ist es, die Fähigkeit zu bewahren, nein sagen zu können und so begrenzte Ressourcen für die besten Gelegenheiten aufzuheben“, schreibt Duff McDonald in seiner Biographie über Jamie Dimon von JP Morgran Chase. „Im Laufe der Zeit verlieren viele Unternehmen ihre Disziplin.“
Den gleichen Punkt führt auch Fred Schwed Jr. in der klassischen Wall-Street-Satire „Where Are the Customers’ Yachts?“ an.
Der vorsichtige Banker ist ein beeindruckendes Exemplar – mit einer gesunden Ausstrahlung, die einer gewissen Mäßigung bei Essen, Lebensstil und Denkweise zu verdanken ist. Er sitzt in seinem Stuhl und verbringt den Tag damit, in unterschiedlichen Tonlagen und zu unterschiedlichen Angelegenheiten „nein“ zu sagen. „Ja“ sagt er nur wenige Male im Jahr. Seine Regel lautet, dass er seine „Jas“ für Unternehmen aufhebt, die so wohlhabend sind, dass – wenn man „nein“ sagen würde – schnell ein anderer Banker käme und „Ja“ sagen würde. Sein Geschäftsmodell könnte man folgendermaßen definieren: Er leiht Geld ausschließlich denjenigen, die es nicht dringend benötigen.
Dies klingt gefühlslos und ausgrenzend, aber es steckt mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit dahinter. Man muss nur auf die Hunderte Banken schauen, die im Zuge der Finanzkrise untergegangen sind, nachdem sie sich gegenseitig überzeugt hatten, dass das Kreditrisiko völlig ausgerottet sei.
Sich der strategischen Ineffizienz annehmen
Der Schlüssel, diesem Schicksal aus dem Weg zu gehen, ist es, sich der strategischen Ineffizienz anzunehmen — auch wenn in einem vorsichtigen und bewussten Maß. Dass Fintech-Unternehmen (wie LendingClub, ZestFinance und in geringerem Maße auch Lending Tree (WKN:A12HU0)) voreilig Kredite an Menschen gewähren, die sie niemals persönlich kennengelernt haben, ist für jeden besorgniserregend, der sich nur etwas mit den unvermeidbaren und gefährlichen Risiken des Kreditzyklus auseinandersetzt.
Vor etwas mehr als einem Jahrhundert wurde John Pierpont Morgan, einer der zwei Namensgeber der Bank JPMorgan Chase, während einer Kongressanhörung gefragt, ob wirtschaftliche Kreditentscheidungen auf Geld oder Eigentum stützen. Morgan entgegnete: „Nein, Sir. An vorderster Stelle steht der Charakter. Der Untersuchungsbeamte fragte daraufhin: „Noch vor Geld und Eigentum?“, woraufhin Morgan antwortete: „Noch vor Geld oder Eigentum oder sonst etwas. Mit Geld kann man keinen Charakter kaufen. Eine Person, der ich nicht vertraue, würde bei mir niemals einen Kredit bekommen.“
Für Fintech-Unternehmer ist es verlockend, diesen veralteten Ratschlag abzulehnen. Schließlich bewegen wir uns nicht mehr auf Pferden oder in Kutschen fort wie zu Zeiten Morgans. Der Kurier wurde vom Telegraphen ersetzt, und das Telegraph vom Telefon. Penicillin wurde erst 15 Jahre, nachdem Morgan diese Sätze von sich gab, entdeckt. Und natürlich haben wir heute Big Data und das Internet.
„Seitdem das moderne Kreditsystem in den 1950er Jahren erschaffen wurde, hat sich die Welt verändert“, behauptet ZestFinance. „Die Technologie hat sich verändert. So sollte es auch die Kreditevergabe.“
Die Wahrheit ist aber, dass sich die Kreditvergabe nicht verändert hat, oder zumindest nicht in dem Ausmaß, wie es Aussagen wie diese suggerieren. Technologie kann bei der Vergabe von Krediten helfen, ist aber kein Wundermittel, mit dem man das Kreditrisiko völlig beseitigen kann. Technologie sollte nicht als Ersatz zur Beurteilung eines Charakters erachtet werden. Die klassische Beurteilung ist zugegebenermaßen ein ineffizienter Prozess ist, aber auch einer, dem sich Fintech-Unternehmer widmen müssen, wenn sie die unerbittlichen Unbeständigkeiten des Kreditzyklus überleben wollen.
Naivität bekämpfen
Ich hacke nur auf ZestFinance herum, da es die Ansicht, dass die Art der Beurteilung von Kreditwürdigkeit von Technologie grundlegend verändert wurde, am stärksten vertritt. Basierend auf Gesprächen, die ich in der Vergangenheit mit Fintech-Unternehmer geführt habe, scheint diese Ansicht bei gutmeinenden Fintech-Unternehmern mit langjähriger Programmiererfahrung weit verbreitet zu sein. Wenig Ahnung haben sie aber von der Unberechenbarkeit des Kreditmarktes.
Eine Erklärung für diese Naivität ist die Tatsache, dass viele Fintech-Unternehmer sich nicht bewusst sind, wie häufig Finanzkrisen auftreten. In den knapp 215 Jahren seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts gab es den USA 14 große Finanzpaniken – also in etwa eine Panik alle anderthalb Jahrzehnte.
Eine weitere Erklärung ist, dass Fintech-Unternehmer im Kreditvergabegeschäft den Luxus haben, dogmatisch zu sein, da in der Regel die Kreditentscheidungen ihrer Unternehmen keinen Einfluss auf ihr privates Vermögen haben. Genauso ist es auch bei Online-Darlehensmärkten wie LendingClub und Lending Tree, die Schuldner und Gläubiger lediglich vermitteln. Die eingewurzelte Zerbrechlichkeit dieses Modells hat sich in der Vergangenheit mehrmals unter Beweis gestellt. Es war ein Darlehensvermittler, der Continental Illinois, die erste „Too big to fail“-Bank der USA, 1984 zum Einsturz brachte. Und es waren Hypothekenmakler wie Countrywide Financial, die vor acht Jahren so enormen Schaden im Zuge der Finanzkrise verursacht haben. Und dies erklärt, weshalb sich JPMorgan Chase für ein und alle Mal von diesen distanziert hat.
Nassim Taleb bringt dieses Argument in seinem Buch Antifragile auf sehr elegante Weise an. „Im alten Rom mussten Ingenieure einige Zeit unter der Brücke verbringen, die sie gebaut hatten – etwas, das wir heutzutage auch von unseren Finanzingenieuren fordern sollten“, schrieb er. „Die Engländer gingen sogar so weit, dass sie auch die Familien der Ingenieure unter den fertigen Brücken schliefen lassen haben.“
Kurzum: Auch wenn es nur all zu einfach ist, die hunderte Jahre alte Geschichte des Bankwesens zu ignorieren, tun dies Fintech-Kreditgeber auf eigene Gefahr.
Dies wird erst offensichtlich, wenn der Kreditzyklus sich zum Schlechteren wendet – vielleicht wird es noch viele Jahre dauern, bis dieser Fall eintritt. Aber wenn es so weit ist, werden Unternehmen, die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben, das Chaos und die Unordnung nicht nur überleben, sondern gestärkt aus ihnen herausgehen.
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The Motley Fool hält keine der erwähnten Aktien.
Dieser Artikel wurde von John Maxfield auf Englisch verfasst und am 8.2.2017 auf Fool.com veröffentlicht. Er wurde übersetzt, damit unsere deutschen Leser an der Diskussion teilnehmen können.