Linde und Praxair im Olymp: Das Gute und das Schlechte
Nach langem Hin und Her gelingt es Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle nun offenbar, den Namen Linde (WKN:648300) wieder an die Spitze der Gase-Industrie zu hieven. Aktionäre dürfen auf eine bessere Zukunft hoffen, aber es gibt auch kritische Punkte zu beachten.
Die Konsolidierung des Gase-Markts
Als Ende 2015 gemeldet wurde, dass die französische Air Liquide (WKN:850133) durch die Übernahme von Airgas zur weltweiten Nummer 1 werden wollte, war mir sofort klar, dass Linde auch dieses Mal irgendwie zurückschlagen wird (vergleiche meinen Artikel von damals). Ich hatte argumentiert, dass es besser wäre, massiv in neue Märkte wie Flüssig-Erdas (LNG) oder Wasserstoff als Energieträger zu investieren, anstatt Milliarden für überteuerte Übernahmen aufzuwenden.
Nun gibt es eine dritte Lösung: Der Deal mit Praxair (WKN:884364) sieht eine echte Fusion der bereits vor 100 Jahren zusammengehörenden Unternehmen (!) vor, wobei die Aktionäre jeweils 50 % einer Dachholding erhalten sollen. So entsteht die Nummer 1, ohne dass auch nur ein Dollar oder Euro zu den Aktionären fließt.
Auf der anderen Seite verlieren die Industriekunden einen weiteren Wettbewerber. Viel bleibt jetzt nicht mehr neben den beiden Giganten: In den USA gibt es mit Air Products and Chemicals (WKN:854912) noch einen größeren Rivalen und in Europa die familiengeführte Messer-Gruppe. Hinzu kommt eine Handvoll regionaler Spieler vor allem im arabischen und ostasiatischen Raum.
Auf alle Fälle wurde durch die beiden transatlantischen Deals sichergestellt, dass aggressiven asiatischen Spielern der Zugriff auf diesen lukrativen Markt erschwert wird. Der Margendruck dürfte sich folglich vielerorts zunächst in Grenzen halten.
Aber auch so erwarte ich, dass in den kommenden Jahren neuer Wettbewerb entsteht. Beispielsweise erforscht das mit atemberaubender Geschwindigkeit wachsende staatliche Chemie-Konglomerat ChemChina bereits seit einiger Zeit die Gase-Herstellung. Dass sich Linde und Praxair gegen einen solchen Angriff wappnen, ist dem Anschein nach eine gute Strategie.
Kritische Punkte
Als Aktionär hat man ja sowieso am liebsten ein gewinnmaximierendes Monopol für seine Unternehmen, aber die Frage ist natürlich, was die Aufsichtsbehörden dazu sagen, wenn sich die Zahl der Konkurrenten in einigen Geschäftsbereichen oder Regionen so stark reduziert. Einige unangenehme Zugeständnisse müssen die Partner daher sicherlich machen, um den Deal durch alle Instanzen zu bekommen.
Außerdem dürfte für Argwohn sorgen, dass der Hauptsitzumzug möglicherweise zum Steuersparen auf beiden Seiten des Atlantiks genutzt werden könnte. Einige Beobachter vermuten, dass es Holland wird, aber Irland oder die Schweiz kommen zum Beispiel ebenso in Frage. Das alles wird viele Diskussionen mit der Lokalpolitik und Behördenvertretern erforderlich machen und das Management für einige Zeit von seiner eigentlichen Arbeit abhalten.
Ein anderer Punkt ist jedoch, wie es sein kann, dass Linde eine Fusion unter Gleichen gutheißen kann. Schließlich machen die Münchener viel mehr Umsatz und sind von der Mitarbeiterzahl her mehr als doppelt so groß. Außerdem bringen sie eine Engineering-Sparte ein, die auf ihrem Gebiet Weltspitze ist.
Als Begründung wird die höhere Profitabilität von Praxair angeführt, die auf der betrieblichen Exzellenz beruhe. Aber ist das gerechtfertigt oder nur eine Momentaufnahme? Möglicherweise ist der regionale Mix und der Branchenfokus der Amerikaner derzeit einfach etwas günstiger. Eine Situation, die sich auch mal drehen kann.
Ob man mit den bereits eingeleiteten verschärften Sparmaßnahmen die Rentabilität auf das Niveau von Praxair hätte heben können? Wir werden es wohl nicht mehr erfahren, es könnte jedoch sein, dass Linde sich unter dem Druck der Umstände zu billig hergibt. Aber es gibt auch Positives zu beobachten.
Neue Chancen
Vieles, was die Linde-Aktie zuletzt belastete, kann durch den Deal gelöst werden. Da ist zum einen die geschwächte Vorstandsetage, da für die Abgänge noch kein adäquater Ersatz benannt wurde. Für das kombinierte Unternehmen muss die Linde-Seite lediglich die Hälfte der Vorstände stellen und das erfahrene und effektive Praxair-Management um CEO Steve Angel wird zunächst die Führung übernehmen. Prof. Dr. Reitzle behält die Oberaufsicht.
Zusammen können dann auch die angestrebten Einsparungen leichter erzielt werden, ohne dass bei den Investitionen gekürzt werden muss. Gerade Letzteres gefiel mir zuletzt bei Linde nicht.
Jetzt mit gemeinsamer Kraft erwarte ich, dass Praxair und Linde einige dicke Bretter bohren. Die Energiewende braucht Energiespeicher, die Schifffahrt sauberen Kraftstoff und die Wasserstoffwirtschaft benötigt starke Spieler, die das Thema mit Nachdruck vorantreiben.
All das erfordert große Anstrengungen, neue Infrastruktur und hohe Geldsummen. Wenn aber die entsprechenden Märkte erst einmal etabliert sein werden, dann locken große Gewinne. Schließlich gibt es nur wenige Akteure, welche die notwendigen technologischen und finanziellen Ressourcen haben, um dort eine Hauptrolle zu spielen. Die neue Linde mit Sitz in Europa und Vorstandschef in den USA gehört sicherlich dazu.
Grünes Licht mit Vorbehalt
Es wäre enttäuschend, wenn der Fokus wieder nur auf den Kosteneinsparungen liegen würde, anstatt diese einmaligen Chancen zu ergreifen, die sich den Gase-Konzernen in den kommenden Jahren bieten.
Wenn das Management der neuen Linde hingegen eine kraftvolle Zukunftsvision entwirft und diese konsequent umsetzt, dann sehe ich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dem Konzern eine goldene Zeit bevorsteht. Dass die Investoren derzeit den Dollar und US-Aktien favorisieren, ist ein Nachteil für Linde-Aktionäre, der aber durch die erhofften Vorteile mehr als wettgemacht werden könnte.
Zunächst müssen die beiden Partner jedoch eine endgültige Fusionsvereinbarung ausarbeiten und dann den langen Weg durch alle Instanzen gehen. Spannende Zeiten für die Aktionäre!
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Ralf Anders hält keine Wertpapiere genannter Unternehmen. The Motley Fool empfiehlt Linde.